Research
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Perspektiven auf Rihm und Reimann

Manche von euch werden sich an die Festschrift zu Siegfried Mausers 65. Geburtstag erinnern, deren Publikation Ende 2019 etwa zeitgleich mit der rechtskräftigen Verurteilung des Widmungsträgers zu einer Gefängnisstrafe erfolgte. Zum jetzigen Zeitpunkt ist Mauser noch immer auf freiem Fuß und entzieht sich der Haft mit Hilfe seiner Anwälte und Unterstützer. Unterdessen hat die Hamburger Pianistin Shoko Kuroe zwei der musikalischen Beiträge des Bandes aufgenommen, Wolfgang Rihms Klavierstück Solitudo und Aribert Reimanns Albumblatt für Sigi. In ihren bemerkenswerten Notizen zu diesen Miniaturen, die als Kommentar unter den Videos zu finden sind, erörtert Shoko Kuroe die Musik im psychologischen Täter-Opfer-Spannungsfeld rund um den Widmungsträger. Diese Darbietungen und ihre übergeordnete Perspektive sollten meines Erachtens möglichst vielfältig wahrgenommen und gewürdigt werden, deshalb teile ich sie hier – gemeinsam mit meiner eigenen Rezension der Festschrift, die vor einem Jahr herausgekommen ist.

Über Metners Nachtwind

Gleichsam in der Tradition, auf die Veröffentlichung eines Albums einige Singles folgen zu lassen, ist nun die erste Auskopplung eines Aufsatzes aus meiner Dissertation zu Nikolai Metners Klaviersonaten erschienen – und fällt, wie es der Zufall will, mit dem 141. Geburtstag des Komponisten zusammen. Bei Interesse darf, wer mag, gern an meiner Erörterung von Metners längster und formal rätselhaftester Klavierkomposition teilhaben, der epischen e-Moll-Sonate op. 25 Nr. 1, die durch das Gedicht Nachtwind von Fëdor Tjutčev inspiriert ist. Der Artikel ist im Open Access als Bestandteil der GMTH Proceedings erschienen, einer neuen Publikationsreihe der Gesellschaft für Musiktheorie, deren jüngste Ausgabe den Jahreskongress 2017 der GMTH an der Kunstuniversität Graz resümiert.

Beethoven, Taneev, Metner

Ich freue mich, am kommenden Wochenende ein Referat beim Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie präsentieren zu dürfen. Dieser wird von der Hochschule für Musik Detmold ausgerichtet, wegen der andauernden Pandemiesituation allerdings als Online-Veranstaltung durchgeführt. Tatsächlich ist der GMTH-Kongress von vier Konferenzen, die ich in diesem Herbst besuchen wollte, die einzige, die tatsächlich stattfindet und nicht verschoben wurde. Ich werde über den Traditionstransfer west- und mitteleuropäischer Konzepte musikalischer Form nach Russland sprechen, insbesondere bezogen auf die Sonatentheorie Sergej Taneevs (die sich primär am Modell der Beethoven’schen Sonaten orientierte) und dessen Einfluss auf seinen Schüler Nikolai Metner. Außerdem werde ich als Chair eine Session zur Didaktik des Musikverstehens und zur digitalen Vermittlung musiktheoretischer Inhalte leiten, worauf ich sehr gespannt bin.

Dreiklangsquadrate

Ich habe ein wenig mit verschiedenen Diagrammtypen zur Darstellung von Akkordbeziehungen experimentiert, zum Teil inspiriert durch das Euler’sche und Riemann’sche Tonnetz. Daraus entstand die Idee, alle 24 Dur- und Moll-Dreiklänge in ein 5×5-Raster einzutragen (das mittlere Feld bleibt frei). Nach einigen Versuchen, eine sinnvolle und aussagekräftige Anordnung zu finden, scheint es mir keine vollständig konsistente Weise zu geben, die Akkorde so zu verteilen, dass eine einheitliche Regel zur Ableitung der in gleicher Richtung angrenzenden Felder befolgt wird. Allerdings habe ich zwei interessante Layouts entdeckt: eines davon ist an Terzbeziehungen orientiert, das andere bevorzugt hexatonische Pole. Ich wäre interessiert zu erfahren, was ihr über diese Diagramme denkt und ob ihr darin einen Nutzen für eine transformational theory seht, die über die bloße Illustration von Kleinterzzyklen und Halbton-Ganzton-Regionen als symmetrische Muster hinausgeht.

Natürlich ist dies bisher noch thought-in-progress und noch keine voll entwickelte Theorie, und ich bin gespannt auf eure Meinungen und Anregungen. Falls ich unbewusst Ergebnisse der Neo-Riemannian Theory reproduziert haben sollte, die mir nicht gegenwärtig waren, bitte ich um einen entsprechenden Hinweis. Und wenn ihr Ideen für eine überzeugendere 5×5-Anordnung habt, so lasst sie mich gern wissen.

Ganztönige Diatonik?

Die hexatonische oder Ganztonleiter (Modus 1 nach Messiaen) ist nicht eigentlich diatonisch, sondern eine symmetrische Skala, die aus einer äquidistanten Teilung der Oktave in sechs Abschnitte entsteht. Dies resultiert in Stufen, die um jeweils zwei Halbtonschritte auseinander liegen – eine Eigenschaft, die der gängigen Definition von Diatonik als Unterkategorie von Heptatonik widerspricht, denn eine diatonische Skala erfordet sieben diskrete Stammtöne mit Ganz- und Halbtonschritten in eindeutiger Alteration. Dennoch ist es möglich, eine Ganztonleiter aus diatonischem Material zu konstruieren, wie ich im Folgenden zeigen möchte.

Zu diesem Zweck verwende ich die Tetrachordtheorie. Ein Tetrachord besteht aus vier benachbarten diatonischen Stufen im Ambitus einer reinen oder übermäßigen Quarte, wobei vier Varianten möglich sind, die sich durch die Existenz und Position eines Halbtonschritts unterscheiten: ionisch (2 2 1), dorisch (2 1 2), phrygisch (1 2 2) und lydisch (2 2 2: ohne Halbtonschritt). Wenn wir eine diatonische Skala als Kombination zweier disjunkter und um eine reine Quinte gegeneinander transponierter Tetrachorde betrachten, gibt es sieben Kombinationen, durch die sich die sieben diatonischen Modi bilden lassen – Äolisch besteht etwa aus einem unteren dorischen und einem oberen phrygischen Tetrachord, während Mixolydisch aus einem unteren ionischen und einem oberen dorischen Tetrachord besteht. Die achte Kombination hingegen verbindet zwei lydische Tetrachorde zu einer nichtdiatonischen Ganztonleiter, vorausgesetzt, man lässt die Transposition des oberen Tetrachords um eine verminderte (statt reine) Quinte zu. Die resultierende Skala (2 2 2 0 2 2 2) besitzt sechs Tonhöhen, verwendet aber dennoch alle sieben Stammtöne und weist in der Mitte eine verminderte Sekunde fisges auf. In ihrer plagalen Variante umfasst die Skala den Ambitus einer übermäßigen Septime gesfis.