Es hat mich immer fasziniert, dass bei Sänger_innen kein direkter Zusammenhang zwischen der äußeren Erscheinung, der geschlechtlichen Identität der Person und jener der Bühnenrolle, dem Stimmfach und dem Stimmambitus besteht. Ist es nicht wunderbar, dass die Nuancen der menschlichen Stimme ebenso vielfältig sind wie die Möglichkeiten der persönlichen Geschlechtswahrnehmung, des Alters und der ethnischen Zugehörigkeit? In diesem transzendenten Kontinuum vokaler Funktionalität ist alles möglich. Ich denke, dass die schiere Schönheit einer Stimme durch die Vielzahl der physiologischen und emotionalen Einflüsse bedingt wird, denen sie unterliegt. Je mehr die ästhetischen und phoniatrischen Voraussetzungen sich vermischen und überschneiden, desto fesselnder stellt sich das klangliche Ergebnis dar.
General
Anschauen vor Zuhören?
Offenbar existiert keine allgemeine Vorstellung davon, was es heißt, sich als klassische*r Musiker*in selbst zu promoten. Musikhochschulen geben zumeist wenig Anregungen und Impulse hinsichtlich der Marketinginstrumente, die ihren Absolvent*innen als Soloselbständige zur Verfügung stehen, und so bleibt diesen die Wahl der Mittel für Selbstpräsentation und Audience Development weitgehend selbst überlassen. Dies resultiert allzu häufig in einer Orientierung an den Mechanismen des kommerziellen Musikbetriebs – und damit in einem Primat des Visuellen: Das Hauptaugenmerk der Darstellung liegt auf dem eigenen Aussehen. Ganze Scharen von Interpret*innen beglücken ihr Publikum nicht etwa in erster Linie durch ihr Musizieren, sondern durch das Bestreben, sich in ihren aktuellen Konzertankündigungen, Amateurvideos oder Fotoshootings optisch vorteilhaft in Szene zu setzen.
Liebe Leute, wie wäre es denn, wenn ihr eure Reichweite in den sozialen Medien zur Unterstützung derjenigen Kolleg*innen einsetztet, die nur mit Mühe ihren Lebensunterhalt durch das Musizieren bestreiten können? Ist es statthaft, die eigene Marketingstrategie auf möglichst gutes Aussehen auszurichten, wenn so viele eurer freiberuflichen Mitstreiter*innen nicht angemessen bezahlt werden? Ich schlage vor, ein gewisses Standesbewusstsein in eure Selbstpräsentation zu integrieren: Bringt euren Followern die Wichtigkeit einer gesellschaftlichen und politischen Interessenvertretung nahe und lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit auf die desolate Situation des freiberuflichen Musikertums. Es wird eure Glaubwürdigkeit erhöhen, wenn ihr nicht nur hübsch ausseht und schön musiziert, sondern euch auch mit den elementaren Problemen unserer Branche beschäftigt und euch zu diesen positioniert. Wetteifert nicht um Komplimente, sondern um berufsständische Anerkennung. Entledigt euch eurer glamourösen Instagram-Profile, tretet stattdessen einem Berufsverband bei, engagiert euch für verbesserte Arbeitsbedingungen und werdet zu Botschaftern des Wohlergehens eurer Profession. Euer Einsatz wird vielfältig gewürdigt werden.
Hinter dem Vorhang
Laut einem Artikel in der New York Times wirken sich Probespiele, bei denen die Musiker_innen nicht sichtbar sind, negativ auf die ethnische Vielfalt in (nordamerikanischen) Orchestern aus und sind für ein diskriminierungsfreies Auswahlverfahren ungeeignet. Grundsätzlich überzeugt mich das zentrale Argument des Autors Anthony Tommasini, dass People of Colour nicht von einem meritokratischen System profitieren, an dem sie aus strukturellen Gründen nicht in ausreichendem Maße teilhaben – allerdings kann man über seine Schlussfolgerung durchaus geteilter Meinung sein. Es erschließt sich mir nicht, warum sich die Situation durch eine Abschaffung der ›blinden‹ Vorspiele verbessern sollte (oder ist nur die Überschrift irreführend?). Sicherlich ist eine vermehrte Unterstützung für nicht-weiße Bewerber_innen notwendig, um deren Chancengerechtigkeit zu vergrößern, gerade auch in den früheren Stadien der professionellen Musikausbildung; aber ich sehe keinen direkten Zusammenhang zwischen derartigen Maßnahmen und den Einstellungsverfahren bei Orchestern. Vielleicht mag mir jemand diese Logik erklären.
Die Farbenblindheit der Musiktheorie
Die nordamerikanische Music Theory erlebt derzeit einen veritablen Skandal. Auf dem Jahreskongress 2019 der Society for Music Theory hielt der afroamerikanische Forscher Philip Ewell einen Plenarvortrag über den ›white racial frame‹ in der Musiktheorie, in dem er die strukturelle Diskriminierung von Nicht-Weißen an US-amerikanischen Fachinstitutionen thematisierte und sich insbesondere dazu äußerte, inwiefern die rassistische Weltanschauung Heinrich Schenkers und dessen Vorstellung einer white supremacy Einfluss auf die von ihm geprägte Analysemethode genommen haben. Eine ausführliche Schriftfassung des Vortrags ist kürzlich in der Zeitschrift Music Theory Online erschienen. Noch bevor diese publiziert wurde, hat eine Gruppe männlicher weißer Schenkerianer eine Serie von Reaktionen verfasst, die in einer neuen Ausgabe des Journal of Schenkerian Studies präsentiert wurden – und zwar unter Vernachlässigung der eigenen Begutachtungsrichtlinien und ohne Ewell die Gelegenheit zu einer persönlichen Stellungnahme zu geben. Die Art und Weise, wie die meisten dieser Entgegnungen (von denen einige in diesem Blogpost zitiert werden) mit Ewells Kritik ins Gericht gehen, ihn ad hominem attackieren und zum Teil nicht vor der Äußerung unverhohlen rassistischer Vorurteile zurückschrecken, schockiert mich zutiefst. Die Autoren, darunter einige prominente Schenkerianer, bestätigen jedoch in ihrer Verteidigung etablierter Strukturen und Sichtweisen und in dem offensichtlichen Ansinnen, ihren Widersacher zu demontieren, unfreiwillig genau diejenigen Mechanismen des racial framing, die Ewell in seinem Artikel offengelegt hat. Die ganze Affäre vermittelt, um es deutlich zu sagen, ein desolates Bild vom innerfachlichen Diskurs der Disziplin.
Jenseits von Solidaritätsbekundungen mit Philip Ewell, die ich rückhaltlos unterstütze, stellt sich mir die Frage, welche Konsequenzen man hierzulande aus dieser Angelegenheit ziehen sollte. Was können wir tun, um uns für strukturellen Rassismus zu sensibilisieren, den Repertoirekanon zu erweitern und die ethnische Diversität im Personal der Musikwissenschaft und Musiktheorie zu erhöhen? Ich plädiere dafür, einige der in Ewells Artikel vorgeschlagenen Maßnahmen auch innerhalb der deutschsprachigen Fachgemeinschaft anzuwenden: nicht-westliche Musiktheorien und Themen der transkulturellen Musikforschung sollten verpflichtende Gegenstände im Studium werden; wir sollten People of Colour als Herausgeber_innen wählen und als Redner_innen bei Konferenzen einladen; wir sollten Preise für antirassistische Forschung ausloben und antirassistische Richtlinien für Jurys und Berufungskommissionen etablieren. So oder ähnlich könnten die selbst gesetzten Herausforderungen für die zukünftige Arbeit der Gesellschaft für Musiktheorie und der Gesellschaft für Musikforschung aussehen.
Lehren, Prüfen und Diversität
Ein anspruchsvolles Sommersemester an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf ist vorüber. Nach intensiven und unerwartet arbeitsaufwendigen Wochen der Entwicklung von Kursen und Online-Tutorials sowie fordernder digitaler Lehre und Prüfungen freue ich mich nun auf die vor mir liegende, etwas weniger geschäftige Zeit. Dies ist die schriftliche Musiktheorie-Prüfung, die ich meinen Studierenden im vierten Semester gestellt habe; sie widmet sich zu gleichen Teilen Musik von Komponistinnen und Komponisten aus Frankreich und Deutschland. Es bereitet nicht viel Mühe, den Repertoirekanon zu erweitern und zumindest bei den Gegenständen der Lehre für ein wenig Vielfalt zu sorgen, auch wenn dies natürlich im klassischen Musikbetrieb nichts ändern wird. Möge es aber immerhin ein kleiner Impuls sein.