Ein sehr lesenswerter Artikel, verfasst von dem Klavierprofessor Florian Hölscher von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt, über Hierarchien und Machtmissbrauch in der klassischen Musikausbildung. Mit vielfältigen historischen Bezügen zu den Phänomenen Meisterlehre und Genieästhetik, einer erhellenden Darstellung des George-Kreises als Beispiel für psychische und sexuelle Abhängigkeit von einem Mentor bzw. Guru, sowie einer Typologie potentieller Täter in künstlerischen Unterrichtsverhältnissen. Vielen Dank für die Bereitstellung des Texts für das Pro Musik Magazin!
General
Digitalisierter Musiktheorie-Unterricht
Ich habe versucht, meine Erfahrungen in der medienbasierten Hochschullehre zusammenzufassen, und einige persönliche Leitlinien für den digitalisierten Musiktheorie-Unterricht erstellt. Entstanden ist eine kondensierte Konzeption mit flexiblen Anwendungsgebieten und Lehrformaten: in Präsenz, online, hybrid sowie alternierende Mischformen. Berücksichtigt wird auch der synchrone und asynchrone Einsatz von kollaborativen Cloud-Dokumenten und Whiteboards – ein Kernelement meiner Musiktheorie-Lehrmethodik während der letzten drei Jahre. Weitere wesentliche Komponenten sind Lernplattformen, open educational resources und multimediale Interaktion mittels virtueller Musizier-Apps und MIDI-Geräten. Ich würde mich über einen Austausch freuen, wenn euch das Konzept interessiert oder ihr eigene Gedanken zum Thema habt. Ergänzungen oder Vorschläge sind ebenfalls herzlich willkommen.
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Schicksalslieder mit dem Vokalsystem Berlin
Ein Panoptikum des vierstimmigen Satzes
Die letzte Woche meines Semesters an der Technischen Universität Dortmund ist vorüber und hat einen faszinierenden Höhepunkt (durchaus im wörtlichen Sinne) in der analytischen Auseinandersetzung mit Skrjabins Poème de l’extase erreicht. Zudem fand die Abschlusspräsentation meines Tonsatz-Seminars in Gestalt eines Werkstattkonzerts statt, bei dem die Studierenden elf verschiedene, in den letzten Monaten entstandene Arbeiten aufführten: Diskantlieder im Renaissance-Stil, lutherische Kantionalsätze und Choräle nach Vorbildern von Schütz und Bach, sowie romantische Liedsätze in vierstimmigen Adaptionen. Das Vokalensemble bestand aus zwölf engagierten Studierenden aus den Bachelor-Studiengängen Lehramt Musik und Musikjournalismus, wobei die Letzteren auch eine Anzahl von Programmtexten und Moderationen zum Konzert beisteuerten. Eine schöne und bereichernde Erfahrung – vielen Dank an alle Beteiligten!
Musiklehrermangel und Fragen der Qualifikation
Wie viele andere Berufe und Branchen leidet auch die Musikpädagogik unter einem drastischen Fachkräftemangel. Insbesondere in Grundschulen fehlt es an gut ausgebildetem Lehrpersonal. Der Deutsche Musikrat hat kürzlich eine Pressemeldung zu den Qualifikationen von Musiklehrkräften und die Anforderungen an deren Ausbildung veröffentlicht. Folgt man der Auffassung des Generalsekretärs Christian Höppner, so sollten die akademischen Standards für das Lehramtsstudium sich weiterhin an den Maßgaben der letzten Jahrzehnte orientieren und Studieninhalte auf traditionelle Gegenstände und Fächer ausgerichtet werden, um einer vermeintlich drohenden Deprofessionalisierung entgegenzuwirken.
In meinen Augen ist dies eine verfehlte und kurzsichtige Strategie. Die desolate aktuelle Situation ist Resultat des langjährigen Festhaltens an überkommenen Strukturen und Wertvorstellungen in der Lehramtsausbildung. Die Forderung des Musikrats wirkt in Zeiten, da sich das Kulturleben gewandelt und diversifiziert hat und Universitäten und Kulturverwaltungen bereits begonnen haben umzusteuern, völlig anachronistisch. Die elitären Ideale des Bildungsbürgertums aufrecht zu erhalten und den Verfall ehemals hoher Ausbildungsstandards zu beklagen, ist nicht hilfreich und führt nur tiefer in die Krise. Stattdessen sollte es darum gehen, mehr Abiturient:innen und potentielle Bewerber:innen für ein Musik-Lehramtsstudium zu gewinnen, indem wir Anreize für eine entsprechende Fächerwahl schaffen – durch Umgestaltung und Flexibilisierung der Curricula, Integration von verschiedenen Musikstilen, Kulturen und Instrumenten sowie neue Konzeptionen für Inhalte und Anforderungen von Eignungsprüfungen. Und schließlich muss der Beruf auch finanziell attraktiver werden, um dessen Image zu stärken und qualifizierte Absolvent:innen für den Arbeitsmarkt gewinnen zu können.
Diese Strategien würden das genaue Gegenteil einer Deprofessionalisierung oder gar eines »Verrats an den Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen«, wie Höppner es darstellt, bewirken. Durch die Möglichkeit, facheinschlägig qualifizierte und praxiserfahrene Referendare mit Bachelor-Abschluss einzustellen, zumindest solange der Notstand andauert, könnte der Situation an vielen Schulen effektiv begegnet werden, anstatt auf die zu niedrigen Zahlen von Master-Absolvent:innen mit Heerscharen von Quer- und Seiteneinsteiger:innen zu reagieren. Wir benötigen keine langen und schwierigen Lehramtsstudiengänge mit künstlich hoch gehaltenem Niveau, sondern mehr Studienplätze und Bewerber:innen, um den derzeitigen und zukünftigen Bedarf zu decken und unsere Verantwortung wahrzunehmen, den nächsten Schülergenerationen gleiche Bildungschancen bieten zu können.