Gerade habe ich die Stichvorlage und den Kritischen Bericht für meine erste wissenschaftliche Notenausgabe abgeschlossen, die im Laufe des nächsten Jahres beim Bärenreiter-Verlag erscheinen wird. Es handelt sich um eines der schönsten Klavierwerke Fryderyk Chopins, die Barcarolle Fis-Dur op. 60 aus dem Jahr 1846. Die Quellenlage ist kompliziert und zum Teil verwirrend: es gibt zwei Autographe, drei parallel veröffentlichte Erstausgaben und zwei von Chopin annotierte Schülerexemplare, die ich auf Abweichungen und mögliche Widersprüche untersucht habe, sowie einige jüngere Druckausgaben. Nun freue ich mich, demnächst den neuen Notensatz Korrektur lesen zu können, zu dem Hardy Rittner die Fingersätze und einen aufführungspraktischen Kommentar beisteuern wird.
Täter im Frack: Tatsächlich?
Ich habe mich kürzlich in eine Facebook-Diskussion mit der VG Musikedition, der Verwertungsgellschaft für das deutsche Musikverlagswesen, involviert. Es ging um deren jüngste Publikation über das Kopieren von Noten, die in weiten Teilen auf einer älteren Broschüre des gleichen Autors Thomas Tietze (»Täter im Frack«) basiert. In einem latent bedrohlichen Tonfall neigt der Text dazu, Musikerinnen und Musiker als »Raubkopierer« zu kriminalisieren und durch Mangel an juristischem Fachwissen bedingtes Verhalten als »illegale Handlung« zu brandmarken. Mittels dieser Publikation und des Hashtags #keinenotenkopieohnelizenz vermittelt die VG Musikedition durchgängig die Auffassung, dass jede Kopie einer Notenausgabe lizenzierungspflichtig sei, ungeachtet des Alters des Urhebers bzw. der Edition. Berücksichtigt man allerdings, dass ein großer Anteil des Musikrepertoires längst gemeinfrei ist, wird dies als propagandistische Desinformationspolitik erkennbar. Mein Austausch mit dem Geschäftsführer Christian Krauß (zumindest glaube ich, dass er mein Dialogpartner gewesen ist) kann in den Screenshots unter diesem Post eingesehen werden.
Das erste Gebot
Dies ist die goldene Grundregel des klassischen Musikjournalismus: Kommentiere niemals und keinesfalls einen Blogpost auf Slipped Disc. Tu es nicht. Denk nicht einmal daran. Lies den Blog und die Kommentare, wenn es unbedingt sein muss, aber erliege nicht der Versuchung, selbst deinen Senf dazuzugeben. Mache es lieber wie Norman, der niemals seine eigenen Beiträge kommentiert (und auch sicherlich nicht auf diesen Post reagieren wird). Folge diesem Rat und halte dich von einem ganzen Haufen Peinlichkeiten fern. Ich danke für deine Aufmerksamkeit!
Neue Erkenntnisse aus München
Ich halte diesen Artikel nicht für ein besonders gelungenes Beispiel journalistischer Arbeit, aber zumindest zeigt er das schier unglaubliche Ausmaß von sexuell anstößigem und missbräuchlichem Verhalten, das aller Wahrscheinlichkeit nach über Jahrzehnte von einigen Professoren der Hochschule für Musik und Theater München an den Tag gelegt worden ist. Auf mich wirkt dieser Vorgang wie ein Scheitern auf allen Ebenen der akademischen Selbstverwaltung – hätte ich das zweifelhafte Vergnügen, an dieser Institution zu arbeiten, würde ich umgehend kündigen. Wenn sich auch nur die Hälfte der besagten Anschuldigungen als zutreffend erweist, sollte die zuständige Landesbehörde einen Untersuchungsausschuss einsetzen und, falls es der Hochschule auch in Zukunft nicht zu verhindern gelingt, dass ihre Studierenden und Mitarbeiter zu Opfern von Sexualstraftaten werden, in letzter Konsequenz deren Schließung erwirken.
Sonatentheorien des Ostens
Gerade habe ich einen Aufsatz über historische Theorien der Sonatenform in Russland und der frühen Sowjetunion beendet. Eine spannende Untersuchung liegt dem Text zu Grunde: Nachdem im späten 19. Jahrhundert zunächst vorrangig Übersetzungen und Adaptionen westeuropäischer Lehrbücher von Hugo Riemann, Ludwig Bussler und Ebenezer Prout verwendet wurden, bereiteten die Beiträge russischer Autoren wie Anton Arenskij, Sergej Taneev, Georgij Katuar und Boris Asaf’ev nach und nach den Weg für eigenständigere Ansätze, in denen das traditionelle Formmodell der Sonate sowohl als Paradigma der Kompositionslehre als auch der Analyse von Musik angesehen wurde. Der Text wird, so hoffe ich, demnächst in der ZGMTH, dem Periodikum der Gesellschaft für Musiktheorie, erscheinen.