Ich freue mich, am kommenden Wochenende ein Referat beim Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie präsentieren zu dürfen. Dieser wird von der Hochschule für Musik Detmold ausgerichtet, wegen der andauernden Pandemiesituation allerdings als Online-Veranstaltung durchgeführt. Tatsächlich ist der GMTH-Kongress von vier Konferenzen, die ich in diesem Herbst besuchen wollte, die einzige, die tatsächlich stattfindet und nicht verschoben wurde. Ich werde über den Traditionstransfer west- und mitteleuropäischer Konzepte musikalischer Form nach Russland sprechen, insbesondere bezogen auf die Sonatentheorie Sergej Taneevs (die sich primär am Modell der Beethoven’schen Sonaten orientierte) und dessen Einfluss auf seinen Schüler Nikolai Metner. Außerdem werde ich als Chair eine Session zur Didaktik des Musikverstehens und zur digitalen Vermittlung musiktheoretischer Inhalte leiten, worauf ich sehr gespannt bin.
Mannigfaltigkeit der Stimmen
Es hat mich immer fasziniert, dass bei Sänger_innen kein direkter Zusammenhang zwischen der äußeren Erscheinung, der geschlechtlichen Identität der Person und jener der Bühnenrolle, dem Stimmfach und dem Stimmambitus besteht. Ist es nicht wunderbar, dass die Nuancen der menschlichen Stimme ebenso vielfältig sind wie die Möglichkeiten der persönlichen Geschlechtswahrnehmung, des Alters und der ethnischen Zugehörigkeit? In diesem transzendenten Kontinuum vokaler Funktionalität ist alles möglich. Ich denke, dass die schiere Schönheit einer Stimme durch die Vielzahl der physiologischen und emotionalen Einflüsse bedingt wird, denen sie unterliegt. Je mehr die ästhetischen und phoniatrischen Voraussetzungen sich vermischen und überschneiden, desto fesselnder stellt sich das klangliche Ergebnis dar.
Anschauen vor Zuhören?
Offenbar existiert keine allgemeine Vorstellung davon, was es heißt, sich als klassische*r Musiker*in selbst zu promoten. Musikhochschulen geben zumeist wenig Anregungen und Impulse hinsichtlich der Marketinginstrumente, die ihren Absolvent*innen als Soloselbständige zur Verfügung stehen, und so bleibt diesen die Wahl der Mittel für Selbstpräsentation und Audience Development weitgehend selbst überlassen. Dies resultiert allzu häufig in einer Orientierung an den Mechanismen des kommerziellen Musikbetriebs – und damit in einem Primat des Visuellen: Das Hauptaugenmerk der Darstellung liegt auf dem eigenen Aussehen. Ganze Scharen von Interpret*innen beglücken ihr Publikum nicht etwa in erster Linie durch ihr Musizieren, sondern durch das Bestreben, sich in ihren aktuellen Konzertankündigungen, Amateurvideos oder Fotoshootings optisch vorteilhaft in Szene zu setzen.
Liebe Leute, wie wäre es denn, wenn ihr eure Reichweite in den sozialen Medien zur Unterstützung derjenigen Kolleg*innen einsetztet, die nur mit Mühe ihren Lebensunterhalt durch das Musizieren bestreiten können? Ist es statthaft, die eigene Marketingstrategie auf möglichst gutes Aussehen auszurichten, wenn so viele eurer freiberuflichen Mitstreiter*innen nicht angemessen bezahlt werden? Ich schlage vor, ein gewisses Standesbewusstsein in eure Selbstpräsentation zu integrieren: Bringt euren Followern die Wichtigkeit einer gesellschaftlichen und politischen Interessenvertretung nahe und lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit auf die desolate Situation des freiberuflichen Musikertums. Es wird eure Glaubwürdigkeit erhöhen, wenn ihr nicht nur hübsch ausseht und schön musiziert, sondern euch auch mit den elementaren Problemen unserer Branche beschäftigt und euch zu diesen positioniert. Wetteifert nicht um Komplimente, sondern um berufsständische Anerkennung. Entledigt euch eurer glamourösen Instagram-Profile, tretet stattdessen einem Berufsverband bei, engagiert euch für verbesserte Arbeitsbedingungen und werdet zu Botschaftern des Wohlergehens eurer Profession. Euer Einsatz wird vielfältig gewürdigt werden.
Eine elektrische Sonate
Eine der lohnendsten Entscheidungen, die ich im Zusammenhang mit meiner kompositorischen Tätigkeit getroffen habe, war es, meine Partituren im Internet frei verfügbar zu machen. Infolge dieses Schritts haben sich zahlreiche Aufführungen und Aufnahmen meiner Musik ergeben, die allein dadurch zustande gekommen sind, dass Interpret_innen und Dirigent_innen auf der Suche nach neuem Repertoire gern auf IMSLP oder anderen Webseiten nach bestimmten Gattungen oder Instrumentenkombinationen stöbern. Dieses Vorgehen ist sicher nicht bedingungslos zu empfehlen, da es gute Gründe geben mag, die eigene Musik nicht kostenlos zur Verfügung zu stellen – für mich funktioniert es allerdings gut. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf meine jüngste Komposition hinweisen, deren Notensatz soeben vollendet worden ist: Sonata elettrica für verstärkte Gitarre und Klavier. Es handelt sich um ein virtuoses Kabinettstückchen für eine eher unübliche Duo-Besetzung, das nach einem klassisch ausgebildeten E-Gitarristen mit Affinität zum kammermusikalischen Experiment verlangt. Mein Dank geht an Siamak Sattari, mit dessen Beratung der Gitarrenpart ausgearbeitet worden ist.
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Hinter dem Vorhang
Laut einem Artikel in der New York Times wirken sich Probespiele, bei denen die Musiker_innen nicht sichtbar sind, negativ auf die ethnische Vielfalt in (nordamerikanischen) Orchestern aus und sind für ein diskriminierungsfreies Auswahlverfahren ungeeignet. Grundsätzlich überzeugt mich das zentrale Argument des Autors Anthony Tommasini, dass People of Colour nicht von einem meritokratischen System profitieren, an dem sie aus strukturellen Gründen nicht in ausreichendem Maße teilhaben – allerdings kann man über seine Schlussfolgerung durchaus geteilter Meinung sein. Es erschließt sich mir nicht, warum sich die Situation durch eine Abschaffung der ›blinden‹ Vorspiele verbessern sollte (oder ist nur die Überschrift irreführend?). Sicherlich ist eine vermehrte Unterstützung für nicht-weiße Bewerber_innen notwendig, um deren Chancengerechtigkeit zu vergrößern, gerade auch in den früheren Stadien der professionellen Musikausbildung; aber ich sehe keinen direkten Zusammenhang zwischen derartigen Maßnahmen und den Einstellungsverfahren bei Orchestern. Vielleicht mag mir jemand diese Logik erklären.