Man kann nur erstaunt sein angesichts aktueller Tendenzen in Wissenschaft und Publizistik, sich zu öffentlichen Koalitionen zusammenzuschließen, deren vordergründiger Zweck im Eintreten für eine offene Debattenkultur besteht – so zu beobachten etwa am Netzwerk Wissenschaftsfreiheit und der Aktionsgruppe, die hinter dem Appell für freie Debattenräume steht. Ungeachtet der sehr unterschiedlichen Provenienz der Initiativen scheint diesen gemeinsam zu sein, dass bestimmte Entwicklungen in den Geisteswissenschaften, darunter die Forderung nach political correctness und Perspektiven aus der Genderforschung und der critical race theory, als Bedrohung für die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre oder gar für die Meinungsfreiheit wahrgenommen werden. Wie kann es sein, dass einige der einflussreichsten Intellektuellen des Landes meinen, durch eine vermeintlich illiberale ›cancel culture‹ oder Zensur in ihrem Ausdrucksbedürfnis beschnitten zu werden, wenn sie ihr Grundrecht auf freie Rede in Anspruch nehmen? Professor_innen, anerkannte Autor_innen und Journalist_innen stehen an der Spitze der Aufmerksamkeitshierarchie, können mit großer Reichweite sagen und publizieren, was sie denken, werden in Talkshows eingeladen und erhalten Preise für Wissenschaftskommunikation – und diese privilegierten Menschen sehen sich in einer Opferrolle und befürchten persönliche Nachteile infolge ihrer Äußerungen? Vielleicht ist ein gelegentlicher Blick in Länder wie Ungarn oder die Türkei hilfreich, wo die Forschungs- und Pressefreiheit tatsächlich durch repressives Regierungshandeln gefährdet sind; und vielleicht gelingt es dann, die Angemessenheit dieser larmoyanten imaginären Bedrohungsszenarien neu zu beurteilen.
Perspektiven auf Rihm und Reimann
Manche von euch werden sich an die Festschrift zu Siegfried Mausers 65. Geburtstag erinnern, deren Publikation Ende 2019 etwa zeitgleich mit der rechtskräftigen Verurteilung des Widmungsträgers zu einer Gefängnisstrafe erfolgte. Zum jetzigen Zeitpunkt ist Mauser noch immer auf freiem Fuß und entzieht sich der Haft mit Hilfe seiner Anwälte und Unterstützer. Unterdessen hat die Hamburger Pianistin Shoko Kuroe zwei der musikalischen Beiträge des Bandes aufgenommen, Wolfgang Rihms Klavierstück Solitudo und Aribert Reimanns Albumblatt für Sigi. In ihren bemerkenswerten Notizen zu diesen Miniaturen, die als Kommentar unter den Videos zu finden sind, erörtert Shoko Kuroe die Musik im psychologischen Täter-Opfer-Spannungsfeld rund um den Widmungsträger. Diese Darbietungen und ihre übergeordnete Perspektive sollten meines Erachtens möglichst vielfältig wahrgenommen und gewürdigt werden, deshalb teile ich sie hier – gemeinsam mit meiner eigenen Rezension der Festschrift, die vor einem Jahr herausgekommen ist.
Machtmissbrauch an Musikhochschulen
Das Ausbildungssystem der deutschen Musikhochschulen stammt aus dem 19. Jahrhundert und hat sich in mancher Hinsicht nicht über die antiquierten Prinzipien und autoritären Mechanismen der musikalischen ›Meisterlehre‹ hinausbewegt. Durch ein historisch gewachsenes System von künstlerischen und persönlichen Abhängigkeiten der Studierenden gegenüber den Lehrenden sind die Institutionen anfällig für Machtmissbrauch. In einem aktuellen Artikel des Harfenduo Laura Oetzel & Daniel Mattelé werden einige aufwühlende Fälle von Fehlverhalten dokumentiert, die auf einer übergeordneten Ebene symptomatisch für den klassischen Musikbetrieb erscheinen – derartige Probleme betreffen nicht nur die Ausbildung, sondern letztlich die gesamte Branche. Ich habe einige Überlegungen angestellt, wie Strukturen, die Machtmissbrauch und übergriffiges Verhalten ermöglichen oder begünstigen, identifiziert und durchbrochen werden können. Auf Seiten der Hochschulleitungen sollten etwa folgende Maßnahmen ergriffen werden:
- Institutionalisierte Beratung und Supervision für neue Mitglieder des Lehrkörpers durch ein gewähltes Team aus Lehrenden und Verwaltungsmitarbeiter*innen
- Verpflichtende Fortbildungen zu Themen aus den Bereichen Musikpädagogik, Instrumental- und Gesangsdidaktik sowie Lernpsychologie, insbesondere für Lehrende ohne pädagogischen Studienabschluss
- Verringerung der Möglichkeiten missbräuchlicher Einflussnahme von Lehrenden auf die Bewertung der Studierenden, insbesondere im künstlerischen Hauptfach (etwa durch eine neutrale Kontrollinstanz in Prüfungskommissionen)
- Verpflichtende Lehrevaluationen auf der Grundlage von anonymen Befragungen der Studierenden und von Unterrichtshospitationen durch neutrale Personen, die der Hochschule nicht angehören
- Durchsetzung von geeigneten dienstrechtlichen Sanktionen in Fällen von Machtmissbrauch oder bei mehrmaliger negativer Evaluation, etwa: Disziplinarverfahren, Kürzung der Bezüge, Suspendierung, nötigenfalls Kündigung und Strafanzeige
Weitere Fragen, die im Zuge einer Aufarbeitung und Anwendung von Personalentwicklungsmaßnahmen zur Sprache kommen sollten: Wie können Hochschul- und Fachbereichsleitungen, denen Fälle von Machtmissbrauch zur Kenntnis gelangen, verfahren, um Wiederholungen zu unterbinden und missbräuchlich handelnde Personen zur Verantwortung zu ziehen? Wie kann eine neutrale und institutionsübergreifende Beratungsstelle geschaffen werden, an die sich betroffene Studierende vertrauensvoll wenden können, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen? Wie können betroffene Studierende ermutigt werden, Fehlverhalten anzuzeigen, und wie kann der verbreiteten Angst, die missbräuchlich handelnden Personen könnten negativen Einfluss auf den weiteren Karriereverlauf der Studierenden nehmen, begegnet werden?
Über Metners Nachtwind
Gleichsam in der Tradition, auf die Veröffentlichung eines Albums einige Singles folgen zu lassen, ist nun die erste Auskopplung eines Aufsatzes aus meiner Dissertation zu Nikolai Metners Klaviersonaten erschienen – und fällt, wie es der Zufall will, mit dem 141. Geburtstag des Komponisten zusammen. Bei Interesse darf, wer mag, gern an meiner Erörterung von Metners längster und formal rätselhaftester Klavierkomposition teilhaben, der epischen e-Moll-Sonate op. 25 Nr. 1, die durch das Gedicht Nachtwind von Fëdor Tjutčev inspiriert ist. Der Artikel ist im Open Access als Bestandteil der GMTH Proceedings erschienen, einer neuen Publikationsreihe der Gesellschaft für Musiktheorie, deren jüngste Ausgabe den Jahreskongress 2017 der GMTH an der Kunstuniversität Graz resümiert.
Gedanken zum Jahresende
Hier sind einige Überlegungen, wie eine berufsständische Organisation für Musiker_innen beschaffen sein sollte. Soweit ich sehe, existiert kein Berufsverband, der alle diese Eigenschaften aufweist, aber möglicherweise irre ich mich. Ergänzungen und weiterführende Gedanken sind sehr erwünscht!
- Der Verband sollte in erster Linie freischaffende Musizierende und Musikunterrichtende repräsentieren und in deren Interesse agieren, indem er sie durch Networking und Lobbying unterstützt, ihre wirtschaftliche Situation genau kennt und politische Initiativen zur Etablierung einer festen Honorarordnung anstößt.
- Er sollte in einen Dialog auf Augenhöhe mit Bundes- und Landespolitikern eintreten und in permanentem Austausch mit Vertretern der Musik- und Medienindustrie, des Verlagswesens, der Verwertungsgesellschaften, der Gewerkschaften und der Künstlersozialkasse stehen.
- Er sollte über das Musikgeschäft hinaus denken und mit anderen Freiberuflerverbänden und Organisationen aus benachbarten Bereichen der Kreativbranche zusammenarbeiten.
- Seine Organe und Vorstandsmitglieder sollten dauerhaft in der Öffentlichkeit stehen und in allen relevanten Medien (Print, TV und Radio, Internet) präsent sein. Die Außendarstellung des Verbands ist von großer Bedeutung und sollte einer professionellen Pressestelle anvertraut werden.
- Er sollte eine eigene Zeitschrift oder Verbandsjournal herausgeben, das sich den wichtigsten Themen der Mitgliederschaft widmet und unabhängig von anderen Medien oder Periodika erscheint.
- Er sollte den Mitgliedern kostenlose Rechtsberatung sowie Sonderkonditionen bei Versicherungen (Haftpflicht, Unfall, Berufsunfähigkeit) anbieten.
- Er sollte die Organisation von Konzerten und anderen öffentlichen Veranstaltungen von der Zustimmung der Mitglieder abhängig machen und solche Aktivitäten regelmäßig evaluieren und legitimieren lassen.
- Er sollte die Mitglieder ermutigen, sich an verbandsinternen Diskussionen zu Fachthemen zu beteiligen, ihre Ideen öffentlich zu präsentieren und für spezielle Themen Arbeitsgruppen zu bilden, die dem Vorstand regelmäßig Bericht erstatten.
- Er sollte an Musikhochschulen und Universitäten gezielt neue Mitglieder akquirieren sowie ein Nachwuchsförderprogramm und ein Prämiensystem zur Mitgliederwerbung erarbeiten.
- Er sollte eine professionelle und von Vollzeitkräften versehene Geschäftsführung unterhalten, die für die gesamte Buchhaltung und die Mitgliederverwaltung zuständig ist. Die Haushaltsplanung und alle Finanztransaktionen sollten gegenüber allen Mitgliedern transparent gemacht werden.
- Er sollte die Amtszeit der Vorstandsmitglieder auf 2–3 Jahre begrenzen und eine Stimmrechtsübertragung für Wahlen gestatten. Zweimal im Jahr sollte eine Online-Mitgliederversammlung stattfinden, um größtmögliche Partizipation an allen maßgeblichen Entscheidungen des Verbands zu ermöglichen.
- Er sollte gestaffelte Mitgliedsbeiträge anbieten, die einen Anteil von 1 % des Nettojahreseinkommens des jeweiligen Mitglieds nicht überschreiten.