Wendelin Bitzan

Wendelin Bitzan

Ukrainische Musikgeheimnisse

Eins weiß ich sicher: Über dem Kleinen Saal der Musikakademie Odessa schwebt der Geist von Emil Gilels. Überdies scheint diese Institution das einzige Konservatorium in Europa zu sein, das nach einer Frau benannt ist: nämlich der Koloratursopranistin Antonina Neždanova, der Widmungsträgerin von Rachmaninovs Vokalise. Andere Fragen hingegen sind während meiner Reise in die Ukraine offen geblieben: Warum haben Horowitz und Richter nicht mehr Musik von Metner aufgeführt, dessen Gastspiele im Land sie im Jahre 1927 miterlebten? Wo genau wurde Horowitz geboren? Und wie um alles in der Welt konnten die sowjetischen Behörden ihm einen Pass mit dem falschen Vatersnamen ›Semënovič‹ anstatt ›Samuilovič‹ ausstellen? Möglicherweise werden diese obskuren Sachverhalte eines Tages durch weitere Forschungen erhellt. Ich bin nun auf dem Weg ins schöne L’viv, wo ich einen weiteren Tag verbringen werde, bevor ich zur Alltagsroutine zurückkehre – das beginnende Wintersemester an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf wird meine ganze Aufmerksamkeit fordern.

Zehnjähriges Entzücken

Im Herbst 2009 nahm eine Geschichte ihren Anfang, deren Nachwirkungen bis heute anhalten und die mich auch künftig weiter umtreiben wird: Als ich mit der Einstudierung von Nikolai Metners Sonate-Ballade op. 27 begann, war ich sofort gefesselt von der raffinierten Dichte des Klaviersatzes, der Ausgewogenheit der Form und der intellektuellen Tiefe der Musik. Meine nachhaltige Faszination für Metners Kunst wurde durch die Beschäftigung mit diesem Werk ausgelöst und übertrug sich bald auf große Teile seines Schaffens.

Ein Jahrzehnt später, nach zahlreichen Artikeln, Präsentationen und einer Dissertation, fühle ich mich berufen, den ersten Satz dieser anspruchsvollen Komposition erneut als Pianist in Angriff zu nehmen. Mit Spannung und Freude darf ich zwei Anlässe ankündigen, zu denen ich ein Gesprächskonzert über die Sonate-Ballade präsentieren werde: zunächst als Bestandteil eines Hauskonzerts bei meiner geschätzten Kollegin Ekaterine Chvedelidze in Berlin-Prenzlauer Berg, stattfindend (in Übereinstimmung mit der Opuszahl!) am kommenden Freitag, 27. September, ab 19 Uhr – eine Wegbeschreibung gibt es auf Anfrage. Der zweite Auftritt, diesmal in englischer Sprache, folgt am Freitag, 4. Oktober, um 11 Uhr im Kleinen Saal der Musikakademie Odessa, und zwar im Rahmen des Festivals MedtnerFest XXI, an dem teilzunehmen ich die Ehre habe. Wie stets wird es mein größtes Vergnügen sein, meine Bemühungen durch eure geschätzte Gegenwart belohnt zu wissen.

Musik für Singstimmen

Es gibt zwei neue Verlautbarungen aus dem Bereich der Vokalmusik:
(1) Im letzten Jahr widmete ich meinem Sohn Lionel eine Komposition namens Silbensalat zu seinem vierten Geburtstag. Dabei handelt es sich um vier Kanons in verschiedenen Stimmkombinationen, Skalen und Intervallen, deren Texte Lionels liebste Dinge und Aktivitäten zum Thema haben. Gerade rechtzeitig zu seinem heutigen fünften Geburtstag habe ich endlich die Noten fertiggestellt, die hier verfügbar sind.
(2) Meiner Faszination für die ausdrucksstarke und feinsinnige Musik der Songwriterin Eleni Irakleous alias Eleni Era habe ich durch Bearbeitungen zweier ihrer Lieder Ausdruck verliehen, Beautiful Moon und Big Star, die nun in Versionen für Solostimme und gemischten Chor existieren. Die Noten stehen hier mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin zum Download; die Songs sind im Original an diesem Ort zu hören.

Handlanger und Verhandlungen

Nächste Woche wird am Bundesgerichtshof die Berufungsverhandlung in der Causa Siegfried Mauser stattfinden, von der ein endgültiges Urteil zur Höhe des Strafmaßes für verschiedene Sexualdelikte erwartet wird. Kurz vor dieser Entscheidung hat der Würzburger Verlag Königshausen & Neumann die baldige Veröffentlichung einer Festschrift zu Mausers 65. Geburtstag angekündigt, die von zwei seiner Vertrauten, dem Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer und der Musikwissenschaftlerin Susanne Popp, mitherausgegeben wird. Zwar ist davon auszugehen, dass bereits vor Bekanntwerden der Vorwürfe gegen Mauser mit der Vorbereitung des Bandes begonnen wurde; dennoch ist fraglich, ob die Festschrift als intendierte Exkulpation gelten oder die Liste der Beitragenden als Liste von Mausers Parteigängern gelesen werden kann. In jedem Fall darf die Veröffentlichung eines Artikels oder einer Komposition in einer solchen Publikation als Geste der Unterstützung betrachtet werden, zumindest aber als unterlassene Distanzierung vom Widmungsträger als öffentliche Person. Blogs und soziale Medien haben bereits Position bezogen: Alexander Strauch erörtert in seinem Artikel mögliche Zwecke und Zielsetzungen der Festschrift, während Theo Geißler in seinem sprachlich entgleisten Kommentar verschiedene Komponisten, darunter Helmut Lachenmann, Manfred Trojahn und Wolfgang Riehm (sic!), as »Fummelkumpane« schmäht. Konkrete Kritik verbietet sich bis zum tatsächlichen Erscheinen; dann jedoch wäre eine besonnenere Beurteilung des Bandes und seines wissenschaftlichen Wertes wünschenswert, idealerweise in Gestalt einer Rezension.

Die Sonate als zeitloses Prinzip

Liebe Menschen, ich freue mich, die Publikation meiner Doktorarbeit bekanntgeben zu können. Ab heute ist sie über das Online-Repositorium musiconn.publish, eine Plattform im Rahmen des Qucosa-Projekts der Sächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, im Open Access verfügbar. Das Dokument kann nach Belieben gelesen, heruntergeladen und weitergegeben werden. Zitation bitte nach folgendem Muster:

Bitzan, Wendelin: The Sonata as an Ageless Principle. Nikolai Medtner’s Early Piano Sonatas: Analytic Studies on their Genesis, Style, and Compositional Technique. PhD-Dissertation: Universität für Musik und darstellende Kunst Wien 2018. — dx.doi.org/10.25366/2019.15