Wendelin Bitzan

Wendelin Bitzan

Die Natur der musikalischen Analyse

Manche Menschen glauben, Musik zu analysieren bedeute, harmonische Kürzel unter eine Basslinie zu setzen, ein Formdiagramm zu erstellen, motivische Beziehungen an unterschiedlichen Stellen zu vergleichen oder die Instrumentation eines Stücks zu untersuchen. Alle diese Strategien können als Mittel der Analyse eingesetzt werden – gleichwohl ist keine davon geeignet, das Wesen der Musik im Ganzen zu erfassen. Solange man ein Stück für sich allein betrachtet, ohne seine mannigfachen historischen, sozialen und ästhetischen Kontexte einzubeziehen, wird seine Untersuchung unvollständig bleiben.

Musikalische Analyse als vielgestaltige Aktivität mit künstlerischen, performativen und wissenschaftlichen Anteilen kann unmöglich ohne eingehende Kenntnisse des Repertoires betrieben werden. Von maßgeblicher Bedeutung, um zu wesentlichen Befunde zu gelangen, ist die Fähigkeit, ein Stück im Hinblick auf die Zeit und den Ort seiner Entstehung, die Lebenssituation seiner*seines Urheber*in und andere Musik, die in seinem Umfeld komponiert worden ist, betrachten zu können. Zentrale Fragen sind: Was lässt dieses bestimmte Kunstwerk im Vergleich zu anderen als einzigartig erscheinen, was macht seine Besonderheiten aus? Wann immer wir uns notierter oder erklingender Musik mit einer analytischen Absicht nähern, ist es notwendig, deren übergeordnete Kontexte und Bedeutungen zu berücksichtigen. Analyse ist Forschung.

»Die Partitur ist nicht die Musik selbst, ebenso wie ein Rezept noch keine Mahlzeit macht.«

Überblick zu Initativen für faire Vergütungen

Meine aktuelle Veröffentlichung in dem neu gegründeten Pro Musik Magazin gibt einen Überblick über die vielfältigen Bemühungen der letzten Monate, faire Vergütungen für freischaffende Musiker*innen zu erwirken. Dabei werden mehrere Initiativen in Berufsverbänden sowie auf politischer und administrativer Ebene gegenübergestellt und evaluiert. Manche der erwähnten Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen, aber dennoch mitteilenswert, um möglichst viele Kolleg*innen und betroffene Personen über die derzeitigen Entwicklungen zu informieren. Rückmeldungen und Kommentare sind sehr erwünscht!

Sublimer Silvestrov

Es war mir ein großes Vergnügen, aus der anonymen Perspektive des Publikums zu beobachten, wie hingebungsvoll Valentyn Sylvestrov der Darbietung seiner eigenen Stücke lauschte. Diese Erfahrung ließ mich eine zugleich physische und vergeistigte Nähe wahrnehmen, eine idealisierte Verbindung mit der Musik und ihrem Urheber, während ich in einen kontinuierlichen Klangstrom eintauchte, nahezu frei von Konturen und Kontrasten, der scheinbar endlos hätte andauern können. Vielen Dank an Viktorija Vitrenko, Alexej Ljubimov und den Pianosalon Christophori für das Ermöglichen dieses Konzerts, das nicht einmal zwei Kilometer entfernt von meiner Wohnung stattfand.

Einblicke in chinesische Musiktheorie

Beim letzten Termin meines Seminars zur Geschichte der Musiktheorie an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf haben zwei asiatische Studierende ein kurzes Panoptikum chinesischer Theoriebildung vorgestellt. Einer von ihren gab einen Überblick über Ideen und Schriften des Universalgelehrten Zhu Zaiyu, der während der Zeit der Ming-Dynastie lebte und einen Ansatz entwickelte, um die Stufen der gleichschwebenden Stimmung genauer als jemals zuvor zu berechnen. Das andere Referat konzentrierte sich auf die Struktur traditioneller chinesischer Modi und die Übernahme einer Ziffernnotation, die auf das französische Galin-Paris-Chevé-System zurückgeht und als Alternative zur Solmisation verwendet wird. Ein Glücksfall, wenn man als Dozent die Gelegenheit erhält, signifikantes neues Wissen aus der eigenen Lehrtätigkeit gewinnen zu können!

Bildungsziele von Musikhochschulen

Als ich im Jahr 2010 mein Musikstudium beendete, war ich geneigt zu glauben, dass sich die Ziele der akademischen Musikausbildung niemals ändern würden, und dass die Hochschulen weiterhin hochqualifizierte Absolvent:innen in großer Zahl hervorbringen würden, in Vorbereitung auf ein Berufsbild, das längst nicht mehr der Realität entsprach: feste Vollzeitanstellungen in Orchestern und an Bühnen. Ich hatte den Eindruck gewonnen, dass Hochschulleitungen nicht bereit oder nicht in der Lage waren, den Arbeitsmarkt für Musiker:innen und die Bedingungen und Anforderungen für Berufseinsteiger:innen genauer zu beobachten. Dem Umstand, dass die große Mehrheit der Absolvent:innen einer Patchwork-Karriere in hybriden Arbeitsumfeldern entgegensah, gekennzeichnet durch befristete freischaffende Tätigkeiten und prekäre Vergütungen, wurde keine Rechnung getragen. Insbesondere befanden sich die Zahlen der verfügbaren Studienplätze für die künstlerische Ausbildung im Vergleich zu denjenigen für Lehrtätigkeiten in Schulen und Musikschulen in einem gravierenden Missverhältnis. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es eine dauerhafte Diskrepanz zwischen den Ausbildungszielen der Institutionen und den Erfordernissen des Arbeitsmarkts geben – dies war die vermeintlich einzig absehbare Zukunftsaussicht.

Immerhin besteht nach der Erfahrung der vergangenen Jahre Grund zur Hoffnung, dass sich etwas verändern wird. Viele Musikhochschulen haben auf die Herausforderungen der sich schnell wandelnden Branche reagiert und Lehrangebote zu den Themen Selbstmanagement und Berufskunde in ihre Curricula integriert; gelegentlich werden auch Veranstaltungen zur beruflichen Weiterentwicklung angeboten. Natürlich sind viele Gegebenheiten und Strukturen an den Hochschulen (die zum Teil noch in Traditionen und Arbeitsweisen verhaftet sind, die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen) nach wie vor optimierungsbedürftig. Das wohl dringlichste Desiderat scheint zu sein, das in den Hochschulen bisher fest verankerte Streben nach einer Elitenausbildung auf den Prüfstand zu stellen, und sich stattdessen auf pädagogische Expertise als wichtigstes Ausbildungsziel zu konzentrieren. In einem lesenswerten Interview im VAN Magazin beschreibt Lydia Grün, die neue Präsidentin der Hochschule für Musik und Theater München, einige Maßnahmen, die ihr für ihre Institution vorschweben, und zeigt eine beachtliche Offenheit und Bereitwilligkeit für Reformvorhaben. Ich hoffe, dass diese Haltung auf andere Hochschulleitungen inspirierend wirkt oder zumindest Überlegungen ähnlicher Art in den Führungsetagen hervorruft.