<span class="vcard">Wendelin Bitzan</span>
Wendelin Bitzan

Lysenkos sowjetisches Erbe?

Kürzlich stieß ich in den sozialen Medien auf die Behauptung, dass die Nationalhymne der Sowjetunion, komponiert 1943 von Aleksandr Vasil’evič Aleksandrov und seit 2000 mit angepasstem Text als Hymne der russischen Föderation verwendet, durch ein Klavierwerk des ukrainischen Komponisten Mykola Vitalijovyč Lysenko, Fragment épique aus dem Jahr 1876, inspiriert worden sein könnte. Tatsächlich weist der Anfang der Hymne eine deutliche Ähnlichkeit mit einer Passage kurz vor dem Ende von Lysenkos Komposition auf. Handelt es sich hier um ›kreative Aneignung‹, wie diese Quelle nahelegt, oder gar um ein Plagiat (vorausgesetzt, dass Aleksandrov das Klavierstück von Lysenko kannte, was schwer zu beweisen sein dürfte)? Oder liegt nur eine zufällige Übereinstimmung der Melodie und Harmonik vor, die sich der gemeinsamen Bezugnahme beider Beispiele auf das Satzmodell der Romanesca bzw. des Dur-Moll-Parallelismus verdankt? Was meint ihr?

Workshop zu fairen Honoraren

Ich freue mich, an einer Diskussion zur Entwicklung für Honorarstandards in der öffentlichen Förderung von Musikprojekten in Berlin beteiligt zu sein. Als Vertreter des Deutschen Tonkünstlerverbands Berlin nahm ich heute an einer Gesprächsrunde mit Freischaffenden und Expert:innen aus verschiedenen Berliner Musikverbänden teil, die Empfehlungen für die Senatsverwaltung für Kultur und Europa erarbeiten wird – ein wichtiger Schritt für meinen Verband, um an den derzeitigen und zukünftigen kulturpolitischen Entwicklungen teilhaben zu können und den Mitgliedern eine Meinungsbildung zu ermöglichen. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung der Gespräche in der nächsten Woche.

Bemühungen um faire Honorare für Freischaffende

In den vergangenen Wochen und Monaten haben sich verbandsübergreifend und auf verschiedenen politischen und strukturellen Ebenen Initiativen formiert, die sich für Mindeststandards oder Honoraruntergrenzen für freischaffende Musiker:innen einsetzen. Dabei wird zum Teil an bestehende Vorarbeiten in diesem Bereich (etwa durch die Deutsche Orchestervereinigung, die Tonkünstlerverbände Baden-Württemberg und Bayern oder den Sächsischen Musikrat) angeknüpft; in manchen Belangen fehlt aber noch eine übergeordnete Perspektive, um für möglichst viele Freischaffende sprechen zu können und plausible Forderungen für den gesamten Sektor formulieren zu können. Es existiert bisher keine zentrale Stelle, an der die folgenden jüngeren Initiativen und Arbeitsgruppen inhaltlich gebündelt und untereinander vernetzt werden.

  • Gesprächstermin auf Einladung der Kulturstaatsministerin Claudia Roth und des Arbeitsministers Hubertus Heil zum Thema »Soziale Absicherung verbessern« am 30.05.2022. Hier waren verschiedene Protagonist:innen und Freischaffendenverbände aus der Kultur- und Kreativwirtschaft beteiligt. Nach der Veröffentlichung eines Berichts zu den Diskussionsgegenständen ist noch unklar, wann und in welcher Form an den Termin angeknüpft wird, und ob daraus ein fester Arbeitskreis entsteht.
  • Gesprächstermin auf Einladung der Kultusministerkonferenz für die neu gegründete Kommission »Faire Vergütung von Künstlerinnen und Künstlern« am 22.06.2022. Es diskutierten Vertreter:innen aus der Musikbranche und den Fachverbänden, vorrangig über Möglichkeiten in der öffentlichen Kulturförderung. Nachdem das Vorhaben bereits im März 2022 in einer Pressemitteilung der Kultusministerkonferenz angekündigt wurde, gibt es bisher noch keine öffentliche Dokumentation der Gesprächsergebnisse oder Informationen über das geplante weitere Vorgehen.
  • Vorschlag der Sektion Kunst und Kultur der Gewerkschaft ver.di zur Berechnung von Basishonoraren vom 29.06.2022. Der veröffentlichte Beitrag stellt die Grundprinzipien des Berechnungsmodells vor, ermöglicht aber noch keine tieferen Einblicke in das Zahlenwerk, über dessen konkrete Ausgestaltung noch debattiert wird.
  • Konstituierende Sitzung einer im Präsidium des Deutschen Musikrats initiierten Arbeitsgruppe »Faire Vergütung« am 13.07.2022. Die Besetzung der Arbeitsgruppe wurde unilateral gesteuert; beteiligt waren Gewerkschaften und Berufsverbände, vorrangig auf Bundesebene. Eine Berichterstattung zu den ersten Arbeitsergebnissen und weiteren Perspektiven steht noch aus.
  • Umfrage der Initiative SO_LOS in Kooperation mit ver.di zu Honoraren von Soloselbständigen, gestartet am 15.07.2022. Die branchenübergreifende Erhebung »Reden wir über Geld!« bezieht sich auf aktuelle Freischaffendenhonorare weit über den Kulturbetrieb hinaus und soll eine Orientierung für individuelle und kollektive Verhandlungen geben. Eine Veröffentlichung der Umfrageergebnisse ist für Oktober 2022 geplant.

Ein unbequemer Solitär

Einer der streitbarsten Musikwissenschaftler aller Zeiten hat die Bühne verlassen: Vor wenigen Tagen starb Richard Taruskin (1945–2022). Als Musikforscher und ausübender Musiker hat er, wo auch immer er in Erscheinung trat, Kontroversen erzeugt oder befeuert. Sein Verdienst ist es, den Fachdiskurs in einer Weise polarisiert und polisitiert zu haben, dass der Diskurs über (klassische) Musik zu einer öffentlichen Angelegenheit von unangefochtener gesellschaftlicher Relevanz wurde. Insbesondere bei der Erforschung russischer Musik, auf die große Teile seiner produktiven Publikationstätigkeit gerichtet waren, hat er neue Maßstäbe gesetzt; dabei hat er wiederholt Mythen der Musikgeschichtsschreibung entlarvt und verbreitete Forschungsmeinungen revidiert. Mit Sicherheit werden auch diejenigen, die ihm energisch widersprochen haben, bedauern, dass seine Stimme nun verstummt ist. Mein eigener Nachruf ist heute im VAN Magazin erschienen.

Kammerdialog in Düsseldorf

Ich freue mich, die bevorstehenden Aufführungen meines Klaviertrios Kammerdialog. Eine Konversation mit Geige, Cello und Klavier ankündigen zu dürfen, das am 9. und 10. Juli mehrmals bei den Tagen der Kammermusik im Partika-Saal der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf zu hören sein wird. Das Stück stammt bereits aus dem Jahr 2008, ist aber erst zwei Mal öffentlich gespielt worden, und auch dies ist schon eine ganze Weile her. Deshalb schätze ich mich glücklich über die Unterstützung der Cellistin Inés Bueno López und des Geigers Enrique Carlsson, die gemeinsam mit mir jeweils zwei Mal an den folgenden Terminen zu erleben sein werden. Eine herzliche Einladung sei hiermit ausgesprochen.

  • Samstag, 9. Juli 2022, ab 19 Uhr: gemeinsam mit Klaviertrios von Beethoven und Clara Schumann
  • Sonntag, 10. Juli 2022, ab 11 Uhr: flankiert von weiteren Trios von Haydn und Schostakowitsch