<span class="vcard">Wendelin Bitzan</span>
Wendelin Bitzan

Musiklehrermangel und Fragen der Qualifikation

Wie viele andere Berufe und Branchen leidet auch die Musikpädagogik unter einem drastischen Fachkräftemangel. Insbesondere in Grundschulen fehlt es an gut ausgebildetem Lehrpersonal. Der Deutsche Musikrat hat kürzlich eine Pressemeldung zu den Qualifikationen von Musiklehrkräften und die Anforderungen an deren Ausbildung veröffentlicht. Folgt man der Auffassung des Generalsekretärs Christian Höppner, so sollten die akademischen Standards für das Lehramtsstudium sich weiterhin an den Maßgaben der letzten Jahrzehnte orientieren und Studieninhalte auf traditionelle Gegenstände und Fächer ausgerichtet werden, um einer vermeintlich drohenden Deprofessionalisierung entgegenzuwirken.

In meinen Augen ist dies eine verfehlte und kurzsichtige Strategie. Die desolate aktuelle Situation ist Resultat des langjährigen Festhaltens an überkommenen Strukturen und Wertvorstellungen in der Lehramtsausbildung. Die Forderung des Musikrats wirkt in Zeiten, da sich das Kulturleben gewandelt und diversifiziert hat und Universitäten und Kulturverwaltungen bereits begonnen haben umzusteuern, völlig anachronistisch. Die elitären Ideale des Bildungsbürgertums aufrecht zu erhalten und den Verfall ehemals hoher Ausbildungsstandards zu beklagen, ist nicht hilfreich und führt nur tiefer in die Krise. Stattdessen sollte es darum gehen, mehr Abiturient:innen und potentielle Bewerber:innen für ein Musik-Lehramtsstudium zu gewinnen, indem wir Anreize für eine entsprechende Fächerwahl schaffen – durch Umgestaltung und Flexibilisierung der Curricula, Integration von verschiedenen Musikstilen, Kulturen und Instrumenten sowie neue Konzeptionen für Inhalte und Anforderungen von Eignungsprüfungen. Und schließlich muss der Beruf auch finanziell attraktiver werden, um dessen Image zu stärken und qualifizierte Absolvent:innen für den Arbeitsmarkt gewinnen zu können.

Diese Strategien würden das genaue Gegenteil einer Deprofessionalisierung oder gar eines »Verrats an den Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen«, wie Höppner es darstellt, bewirken. Durch die Möglichkeit, facheinschlägig qualifizierte und praxiserfahrene Referendare mit Bachelor-Abschluss einzustellen, zumindest solange der Notstand andauert, könnte der Situation an vielen Schulen effektiv begegnet werden, anstatt auf die zu niedrigen Zahlen von Master-Absolvent:innen mit Heerscharen von Quer- und Seiteneinsteiger:innen zu reagieren. Wir benötigen keine langen und schwierigen Lehramtsstudiengänge mit künstlich hoch gehaltenem Niveau, sondern mehr Studienplätze und Bewerber:innen, um den derzeitigen und zukünftigen Bedarf zu decken und unsere Verantwortung wahrzunehmen, den nächsten Schülergenerationen gleiche Bildungschancen bieten zu können.

Brahms, Hölderlin und Schiller

Ich freue mich, wieder einmal in einem chorsymphonischen Konzert mitwirken zu dürfen. Am nächsten Sonntag, den 22. Januar, führe ich mit dem Vokalsystem Berlin, Enchore und dem Berliner Sibelius Orchester Brahms‘ Schicksalslied op. 54 und Nänie op. 82 auf. Außerdem erklingen Orchesterwerke von Verdi and Sibelius. In diesem Konzert debütiert außerdem mein lieber Kollege Johannes David Wolff als Dirigent im Großen Saal der Berliner Philharmonie. Es gibt noch einige Restkarten – ich wäre höchst beglückt, euch dort zu treffen!

Tonalität als Familienangelegenheit

Ich habe einige Zeilen über Johanna Kinkels imaginative Beschreibung der Sonatensatzform, wie sie in ihrem Buch Acht Briefe an eine Freundin über Clavier-Unterricht (1852) enthalten ist, verfasst. Kinkel erzeugt eine vermeintlich ironische Analogie zwischen harmonischen Regionen und Familienmitgliedern, in der sie dem Hauptsatz und Seitensatz einer Sonatenexposition maskuline und feminine Eigenschaften zuordnet. Dies veranlasste mich zu einigen Überlegungen zur soziologischen und politischen Dimension ihrer Schriften. Der entstandene Text ist, wie es aussieht, mein erster Beitrag zur musikalischen Genderforschung. Über Kommentare oder kritisches Feedback würde ich mich freuen.

» Tonalität als Familienangelegenheit

Hinfort mit dem Huldigungsetikett

Nun hat Berlins meistverehrter Dirigent sich von seinem Posten als Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden zurückgezogen (während er selbstverständlich weiterhin als Chefdirigent auf Lebenszeit der Staatskapelle Berlin amtiert). Ich habe größtes Verständnis für den Drang, seine Verdienste zu würdigen, und teile die meisten der bereits geäußerten Einschätzungen von Barenboims Lebensleistung. Aber wie wäre es, wenn wir bei dieser Gelegenheit aufhörten, Dirigenten mit dem längst überholten Begriff maestro zu titulieren? Diese Bezeichung steht für toxische traditionelle Hierarchien, zementiert Ungleichheit und Machtmissbrauch und begünstigt künstlerische und administrative Untergebenheit. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn wir uns hier sowohl im Musikjournalismus als auch im Umgangssprachgebrauch einen Schritt weiter bewegen würden.

Die Natur der musikalischen Analyse

Manche Menschen glauben, Musik zu analysieren bedeute, harmonische Kürzel unter eine Basslinie zu setzen, ein Formdiagramm zu erstellen, motivische Beziehungen an unterschiedlichen Stellen zu vergleichen oder die Instrumentation eines Stücks zu untersuchen. Alle diese Strategien können als Mittel der Analyse eingesetzt werden – gleichwohl ist keine davon geeignet, das Wesen der Musik im Ganzen zu erfassen. Solange man ein Stück für sich allein betrachtet, ohne seine mannigfachen historischen, sozialen und ästhetischen Kontexte einzubeziehen, wird seine Untersuchung unvollständig bleiben.

Musikalische Analyse als vielgestaltige Aktivität mit künstlerischen, performativen und wissenschaftlichen Anteilen kann unmöglich ohne eingehende Kenntnisse des Repertoires betrieben werden. Von maßgeblicher Bedeutung, um zu wesentlichen Befunde zu gelangen, ist die Fähigkeit, ein Stück im Hinblick auf die Zeit und den Ort seiner Entstehung, die Lebenssituation seiner*seines Urheber*in und andere Musik, die in seinem Umfeld komponiert worden ist, betrachten zu können. Zentrale Fragen sind: Was lässt dieses bestimmte Kunstwerk im Vergleich zu anderen als einzigartig erscheinen, was macht seine Besonderheiten aus? Wann immer wir uns notierter oder erklingender Musik mit einer analytischen Absicht nähern, ist es notwendig, deren übergeordnete Kontexte und Bedeutungen zu berücksichtigen. Analyse ist Forschung.

»Die Partitur ist nicht die Musik selbst, ebenso wie ein Rezept noch keine Mahlzeit macht.«