Die nordamerikanische Music Theory erlebt derzeit einen veritablen Skandal. Auf dem Jahreskongress 2019 der Society for Music Theory hielt der afroamerikanische Forscher Philip Ewell einen Plenarvortrag über den ›white racial frame‹ in der Musiktheorie, in dem er die strukturelle Diskriminierung von Nicht-Weißen an US-amerikanischen Fachinstitutionen thematisierte und sich insbesondere dazu äußerte, inwiefern die rassistische Weltanschauung Heinrich Schenkers und dessen Vorstellung einer white supremacy Einfluss auf die von ihm geprägte Analysemethode genommen haben. Eine ausführliche Schriftfassung des Vortrags ist kürzlich in der Zeitschrift Music Theory Online erschienen. Noch bevor diese publiziert wurde, hat eine Gruppe männlicher weißer Schenkerianer eine Serie von Reaktionen verfasst, die in einer neuen Ausgabe des Journal of Schenkerian Studies präsentiert wurden – und zwar unter Vernachlässigung der eigenen Begutachtungsrichtlinien und ohne Ewell die Gelegenheit zu einer persönlichen Stellungnahme zu geben. Die Art und Weise, wie die meisten dieser Entgegnungen (von denen einige in diesem Blogpost zitiert werden) mit Ewells Kritik ins Gericht gehen, ihn ad hominem attackieren und zum Teil nicht vor der Äußerung unverhohlen rassistischer Vorurteile zurückschrecken, schockiert mich zutiefst. Die Autoren, darunter einige prominente Schenkerianer, bestätigen jedoch in ihrer Verteidigung etablierter Strukturen und Sichtweisen und in dem offensichtlichen Ansinnen, ihren Widersacher zu demontieren, unfreiwillig genau diejenigen Mechanismen des racial framing, die Ewell in seinem Artikel offengelegt hat. Die ganze Affäre vermittelt, um es deutlich zu sagen, ein desolates Bild vom innerfachlichen Diskurs der Disziplin.
Jenseits von Solidaritätsbekundungen mit Philip Ewell, die ich rückhaltlos unterstütze, stellt sich mir die Frage, welche Konsequenzen man hierzulande aus dieser Angelegenheit ziehen sollte. Was können wir tun, um uns für strukturellen Rassismus zu sensibilisieren, den Repertoirekanon zu erweitern und die ethnische Diversität im Personal der Musikwissenschaft und Musiktheorie zu erhöhen? Ich plädiere dafür, einige der in Ewells Artikel vorgeschlagenen Maßnahmen auch innerhalb der deutschsprachigen Fachgemeinschaft anzuwenden: nicht-westliche Musiktheorien und Themen der transkulturellen Musikforschung sollten verpflichtende Gegenstände im Studium werden; wir sollten People of Colour als Herausgeber_innen wählen und als Redner_innen bei Konferenzen einladen; wir sollten Preise für antirassistische Forschung ausloben und antirassistische Richtlinien für Jurys und Berufungskommissionen etablieren. So oder ähnlich könnten die selbst gesetzten Herausforderungen für die zukünftige Arbeit der Gesellschaft für Musiktheorie und der Gesellschaft für Musikforschung aussehen.