Die Tonart, mit der eine Komposition assoziiert wird, entspricht nicht immer der musikalischen Realität. Etwa wird Beethovens Kreutzer-Sonate op. 47 angesichts ihrer langsamen Einleitung und des Finalsatzes generell als ein Werk in A-Dur bezeichnet, obwohl der Sonatenhauptsatz-Teil des ersten Satzes in a-Moll steht. Ein etwas anderer Fall ist Schumanns vermeintliches a-Moll-Streichquartett op. 41 Nr. 1, wo die Einleitung die Gesamttonart zu bestimmen scheint, ungeachtet der Tatsache, dass das erste Sonaten-Allegro in F-Dur erklingt. Noch merkwürdiger ist der Sachverhalt in Schuberts Impromptu op. 90 Nr. 4, gemäß Vorzeichnung und gängiger Betitelung ein As-Dur-Stück, obwohl es ohne jeden Zweifel in as-Moll beginnt.
Ist es nicht widersprüchlich, die Tonart eines (mehrsätzigen) Werkes nur an seinem Beginn festzumachen? Mir erscheint es schlüssiger, dem Hauptteil eines Satzes den Vorrang vor einer Einleitung zu geben, solange die letztere lediglich eine Varianttonart ausprägt, ohne den Grundton zu verändern – in diesem Sinne wären Mendelssohns Rondo capriccioso op. 14 (ein e-Moll-Werk, auch wenn die Einleitung in E-Dur steht) und Dvořáks achte Symphonie op. 88 (G-Dur mit Einleitung des ersten Satzes in g-Moll) korrekt bezeichnet. Nach diesem Grundsatz müssten wir die Kreutzer-Sonate als eine a-Moll-Komposition erachten. Andererseits würde das erwähnte Schumann-Quartett weiterhin als a-Moll-Werk identifiziert, diejenige Tonart, in der drei seiner vier Sätze beginnen, ungeachtet der Tatsache, dass der Kopfsatz zur Untermediante ausweicht. Was meint ihr?
Mir scheint auch der Grundton die Hauptsache zu sein – d’accord. Und der Hauptteil oder -satz hat den Vorrang vor der Einleitung, sehe ich auch so, ganz in klassischer Tradition. Schwierig wird es, wenn dann später, wie bei Schumann, öfters der Tonika-Ton nicht mehr eindeutig bestimmbar ist („Nordisches Lied“) oder im Hauptsatz „ausgewechselt“ wird wie im Streichquartett a-Moll. Da sind wir dann auf dem Weg zu César Franck, der soweit ich weiß gesagt hat, seine Sinfonie stehe in d-Moll und in f-Moll. Die globale Tonart-Bezeichnung scheint dann schon fast ein Relikt zu sein.
Im ersten Satz von Francks Symphonie korrespondieren aber immerhin jeweils die Tonart der Einleitung und des Hauptteils der Exposition bzw. ihrer Wiederholung. Die Doppeltonalität verursacht hier keine ambivalente Tonartzuschreibung des gesamten Werks …
Vielleicht interessiert Dich diese Perspektive: Um zu bestimmen, ob der Anfang des Stückes gewichtig genug oder nur ein großer Auftakt zum Hauptteil ist, kann man die Preference Rules der GTTM Time-Span Reduction befragen. Konkreter: Zu bestimmen ist, ob Einleitung oder Hauptteil eine höhere structural importance haben.
Glaube, der Wiki-Artikel zur GTTM reicht für den Einstieg aus.
Liebe Grüße
Danke für diesen Hinweis, den ich zum Anlass nehmen werde, mich eingehender mit der GTTM zu beschäftigen (hatte ich ohnehin vor). Aber ist eine langsame Einleitung mit höherem strukturellen Gewicht als der zumeist deutlich längere nachfolgende Hauptteil realistisch? Weißt du ein Beispiel?