Teile des klassischen Musiklebens zeigen sich in einem elenderen Zustand denn je. Norman Lebrecht hat einen durch und durch vulgären Artikel über Sexualität und Machtmissbrauch bei Dirigenten veröffentlicht, in dem er Sex als »eine der Vergütungen des Dirigierens« bezeichnet und sich ausführlich über den »mächtigen Zusammenhang zwischen Dirigentenstäben und Penissen« auslässt. Der Autor, ein Kenner und scharfer Beobachter des Metiers, scheint selbstverständlich vorauszusetzen, dass die Leitung eines Orchesters Potenz erfordert, und impliziert, dass Dirigenten, die keine Frauen belästigen, ein »ziemlich langweiliges Leben« führen (alle Zitate in meiner Übersetzung). Mr. Lebrecht, auch wenn Sie es sich nicht vorstellen können: Das Fehlverhalten von Dirigenten ist weder ein Resultat von mangelnder Geschlechtergerechtigkeit, noch wird es sich maßgeblich durch einen höheren Anteil von Dirigentinnen verbessern lassen. Im Gegenteil – Ursache des Problems ist tiefverwurzelte Frauenverachtung, die durch Meinungen wie die Ihre noch befeuert wird. Es ist an der Zeit, die gesamte vorsintflutliche Maestro-Attitüde und alle damit verbundenen Macht- und Abhängigkeitsmechanismen über Bord zu werfen, wie es Barbara Hannigan bereits gefordert hat. Dirigenten sind Musiker, nicht mehr und nicht weniger, und wir sollten sie nicht als Herrscher über das Orchester ansehen, sondern vielmehr als künstlerische Partner auf Augenhöhe.