Ich finde die jüngste Berichterstattung über den Führungsstil Daniel Barenboims einigermaßen überraschend. Ein Artikel im VAN Magazin erhebt zwischen den Zeilen den Anspruch des Aufdeckens von Tatsachen oder neuen ›Einblicken‹ in die Berliner Musikszene, während andere Stimmen die Angelegenheit herunterspielen, den Eindruck erwecken, dass die Diskussion gerade erst begonnen habe, oder den Protagonisten gar im Sinne einer überkommenen Genieästhetik verteidigen. Ich bin allerdings ziemlich sicher, dass die meisten in irgendeiner Weise mit der Staatsoper Unter den Linden, der Staatskapelle Berlin oder der Barenboim-Said Akademie verbundenen Musiker_innen ähnliche Geschichten erzählen könnten, wie sie bei VAN anonymisiert wiedergegeben werden. Es scheint offensichtlich, dass hier jemand zuviel Macht besitzt – aber das eigentliche Problem ist nicht Barenboim selbst, sondern das System, das ihm zur Macht verholfen hat, ihm enorme finanzielle Mittel zur Verfügung stellt, ihn seit Jahrzehnten hofiert und zulässt, dass er drei öffentlich geförderte Institutionen kontrolliert. Sicherlich muss man Barenboim dafür verantwortlich machen, despotische Arbeitsbedingungen kultiviert und quasi-feudalistische Strukturen in seinen Umfeldern herbeigeführt zu haben. Dennoch liegt die Hauptverantwortung für diese Fehlentwicklungen bei der Bundesregierung und dem Berliner Senat, die sich um jeden Preis einen vermeintlichen Weltklassedirigenten als ›Leuchtturm‹ des Berliner Geltungsdrangs leisten. Die derzeitige Kritik ist berechtigt, aber wirkungslos, solange sich große Teile der Berliner Kulturpolitik dermaßen von Barenboim abhängig machen. Sein Fall ist nur ein Symptom eines korrumpierten klassischen Musikbetriebs, der in den Institutionen wie auch in der Berufsausbildung durchgängig auf Hierarchien, Autoritätshörigkeit und Machtausübung fußt.