Laut einem Artikel in der New York Times wirken sich Probespiele, bei denen die Musiker_innen nicht sichtbar sind, negativ auf die ethnische Vielfalt in (nordamerikanischen) Orchestern aus und sind für ein diskriminierungsfreies Auswahlverfahren ungeeignet. Grundsätzlich überzeugt mich das zentrale Argument des Autors Anthony Tommasini, dass People of Colour nicht von einem meritokratischen System profitieren, an dem sie aus strukturellen Gründen nicht in ausreichendem Maße teilhaben – allerdings kann man über seine Schlussfolgerung durchaus geteilter Meinung sein. Es erschließt sich mir nicht, warum sich die Situation durch eine Abschaffung der ›blinden‹ Vorspiele verbessern sollte (oder ist nur die Überschrift irreführend?). Sicherlich ist eine vermehrte Unterstützung für nicht-weiße Bewerber_innen notwendig, um deren Chancengerechtigkeit zu vergrößern, gerade auch in den früheren Stadien der professionellen Musikausbildung; aber ich sehe keinen direkten Zusammenhang zwischen derartigen Maßnahmen und den Einstellungsverfahren bei Orchestern. Vielleicht mag mir jemand diese Logik erklären.
Ist das ein Plädoyer für die Beibehaltung von Blind Auditions? Der Artikel stellt mE gut die Schwächen dieses meritokratischen Systems dar. Pauschal zu sagen, dass diejenigen, die sich nicht durchsetzen, eben die Anforderungen nicht erfüllen, bedient genau die (tendenziell klassistische / rassistische) Logik, nach welcher die Gründe für den Nichterfolg strukturell benachteiligter Bewerber_innen bei diesen selbst gesucht werden. Ich halte diese Argumentation für höchst problematisch.
Es geht übrigens nicht um eine Quote. Blind Auditions bei Orchestern wurden ursprünglich auch nicht mit dem Ziel der Chancengerechtigkeit für systemisch benachteiligte Gruppen eingeführt, sondern damit Orchestermitglieder nicht ihre eigenen Schüler_innen bei den Probespielen bevorzugen können. Nun hat sich offenbar herausgestellt, dass dieses Mittel zur Diskriminierungsbekämpfung wenig geeignet ist. Es wird aber kaum ausreichen, diese Maßnahme abzuschaffen und darauf zu warten, dass die Chancengerechtigkeit für People of Colour sich von selbst verbessert. Hierauf zielte die Frage, die ich am Ende des Posts formuliert habe, und dazu gibt es sicherlich keine »einfache Erklärung«.
Nun, hier bricht die Logik. Zum einen stellt sich die Frage, was die Erfüllung von Anforderungen mit dem Term Rassismus zu tun hat. Nämlich gar nichts. Sicherlich lassen sich alle möglichen Argumente anführen, die dafür oder dagegen sprechen, aber die Argumentationen und Forderungen bewegen sich in einem rein elitären Umfeld. Und sicherlich liegt der Nichterfolg auch bei potentiell in irgendeiner Weise benachteiligten Bewerbern beim ‚Nichtkönnen‘ dieser Bewerber. Die Suche eines Fehlverhaltens bei den Auswählenden erachte ich strukturell bei einem korrekt durchgeführten Blindvorspiel für überflüssig.
Auch wenn das blinde Vorspiel dazu gedient haben mag, die eigenen Schüler nicht zu bevorzugen, so ist es doch die einzige, fast vollständig objektive Möglichkeit, Kandidaten wertfrei auszuwählen. Die von Ihnen aufgeworfene Frage nach Chancengerechtigkeit stellt sich hier nicht, sie ist durch das ordnungsgemäß durchgeführte Verfahren gewährleistet. Und ob es jemals eine totale Chancengerechtigkeit geben wird oder überhaupt geben kann, darf bezweifelt werden.
Wahrscheinlich ist der Ursprung dieser Untersuchung: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“.
Die Erklärung bleibt -wie von mir bereits ausgeführt-ganz einfach.
Doch, es geht genau um Rassismus und Chancengerechtigkeit. Diese Themen bringe nicht ich auf, sondern der NYT-Artikel, dessen Schlussfolgerung ich nicht nachvollziehbar finde. Kern des Problems ist dabei nicht das Verhalten der Auswahlkommission, sondern die unterschiedlichen Voraussetzungen für die Bewerber_innen in einem in der Tat elitären (und in diesem Zuge von rassistischen Vorurteilen geprägten) Umfeld. Aber all dies wird im Artikel beschrieben.
Mit der Annahme, blinde Probespiele seien bei korrekter Durchführung vollständig objektiv und wertfrei, machen Sie es sich zu einfach. Sie vernachlässigen damit relevante und potentiell diskriminierende Aspekte außerhalb der konkreten Bewerbungssituation. Überdies findet meist nur die erste Auswahlrunde hinter dem Vorhang statt, die endgültige Entscheidung wird also in der Regel im vollen Wissen über Geschlecht, Ethnie und Herkunft der Bewerber_innen getroffen.
Die Erklärung ist ganz einfach: Die Aspiranten erfüllen eben nicht die Anforderungen der Auswählenden. Und es kann nicht sein, nur um irgendwelche Quoten zu erfüllen, dass von den Anforderungen abgerückt wird – denn das würde zu einer Senkung des Niveaus führen.