Opferkultur und Selbstviktimisierung
Opferkultur und Selbstviktimisierung

Opferkultur und Selbstviktimisierung

Man kann nur erstaunt sein angesichts aktueller Tendenzen in Wissenschaft und Publizistik, sich zu öffentlichen Koalitionen zusammenzuschließen, deren vordergründiger Zweck im Eintreten für eine offene Debattenkultur besteht – so zu beobachten etwa am Netzwerk Wissenschaftsfreiheit und der Aktionsgruppe, die hinter dem Appell für freie Debattenräume steht. Ungeachtet der sehr unterschiedlichen Provenienz der Initiativen scheint diesen gemeinsam zu sein, dass bestimmte Entwicklungen in den Geisteswissenschaften, darunter die Forderung nach political correctness und Perspektiven aus der Genderforschung und der critical race theory, als Bedrohung für die Unabhängigkeit von Forschung und Lehre oder gar für die Meinungsfreiheit wahrgenommen werden. Wie kann es sein, dass einige der einflussreichsten Intellektuellen des Landes meinen, durch eine vermeintlich illiberale ›cancel culture‹ oder Zensur in ihrem Ausdrucksbedürfnis beschnitten zu werden, wenn sie ihr Grundrecht auf freie Rede in Anspruch nehmen? Professor_innen, anerkannte Autor_innen und Journalist_innen stehen an der Spitze der Aufmerksamkeitshierarchie, können mit großer Reichweite sagen und publizieren, was sie denken, werden in Talkshows eingeladen und erhalten Preise für Wissenschaftskommunikation – und diese privilegierten Menschen sehen sich in einer Opferrolle und befürchten persönliche Nachteile infolge ihrer Äußerungen? Vielleicht ist ein gelegentlicher Blick in Länder wie Ungarn oder die Türkei hilfreich, wo die Forschungs- und Pressefreiheit tatsächlich durch repressives Regierungshandeln gefährdet sind; und vielleicht gelingt es dann, die Angemessenheit dieser larmoyanten imaginären Bedrohungsszenarien neu zu beurteilen.

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